Drei Personen, die auf den Schultern des anderen auf einer Eisscholle stehen. Die erste Person oben hält eine Fernrohr in den Händen

Stapelkrisen: Liberale Demokratien müssen sich im vorausschauenden Regieren üben

Denken über Silos hinweg, hochwertige Beteiligung von Experten und Zivilgesellschaft sowie eine offene Kultur der informationsbasierten Politikgestaltung: Eine internationale Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt: Noch zu wenige OECD- und EU-Staaten setzen auf eine Art des Regierens, mit der es gelingt, die Krisen unserer Zeit zu überwinden. Auch in Deutschland besteht großer Aufholbedarf.

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Dr. Christof Schiller
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Die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe und die Energiekrise sorgen dafür, dass die Frage nach staatlicher Handlungsfähigkeit so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, wie schon lange nicht mehr.  Vielerorts nimmt das Zutrauen in die Fähigkeit von Demokratien ab, aktuelle Probleme zu lösen.

Trotz einer positiven Entwicklung am Beginn der Corona-Pandemie, gibt es weiterhin beträchtlichen Verbesserungsbedarf bei der vorausschauenden Politikkoordination, der Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses sowie bei der Strategieentwicklung in den OECD- und EU-Staaten. Noch zu wenige Staaten machen vor, dass hier zukunftstaugliche Lösungen möglich sind. "Neben der Stärkung demokratischer Institutionen und Prozesse kommt es darauf an, eine neue Art des Regierens zu etablieren: proaktiv über Silos hinweg, demütig und offen für die breite Einbeziehung neuen Wissens und relevanter gesellschaftlicher Akteure sowie strategisch als Kultur des fortlaufenden Lernens und Ausprobierens", kommentiert Christof Schiller, Studienautor und Governance-Experte der Bertelsmann Stiftung. Das sind die Ergebnisse einer Studie zur jüngsten Auswertung der Sustainable Governance Indicators. Mit dem internationalen Monitor erfasst die Bertelsmann Stiftung seit mehr als zehn Jahren Fortschritte der OECD- und EU-Staaten in der Qualität des vorausschauenden Regierens.

Kaum Fortschritte bei der Überwindung des Ressortegoismus

An der Spitze des Rankings zur Politikkoordinierung gibt es keine Veränderungen. Finnland, Neuseeland, Kanada und Dänemark schaffen nach vor die besten institutio­nellen Voraussetzungen für eine proaktive Koordinierung von der Politikentwicklung bis zur späteren Umsetzung. In Finnland z.B. verfügt die Regierungszentrale über gut ausgebaute Möglichkeiten, die Umsetzungsfortschritte bei Politikmaßnahmen kontinuierlich zu überwachen und auch die Regierungskommunikation zu steuern. Deutschland rangiert hier nur auf Platz 18.

Besorgniserregend ist, dass vielerorts Regierungen nicht einmal mehr ihre selbstgesteckten Ziele erreichen; in 17 Staaten war diese Fähigkeit zuletzt rückläufig. In 21 Staaten gab es  Stagnation und Rückschritte im Bereich der Politikkoordination. In Ländern wie Polen und Ungarn wichen gut funktionierende Koordinierungsprozeduren einer ideologisch aufgeladenen autokratischen Logik des Regierens. Für den Politikerfolg zentral ist auch ein effektives Monitoring der Arbeit von nachgeordneten Behörden. 12 Länder weisen hier große Defizite auf. Politischer Klientelismus erschwert dies zusätzlich.

Mehr Anstrengungen für breite gesellschaftliche Akzeptanz von Politik notwendig

Ohne Zutrauen und breite Unterstützung durch die Bürger wird auch die am besten organisierte Regierung Schiffbruch erleiden. Die Bedingungen, unter denen Regierungen heute einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichen müssen, haben sich allerdings weiter erschwert. In nahezu der Hälfte der Industriestaaten behindert die Zerstrittenheit der politischen Lager mittlerweile die Suche nach parteiübergreifenden Lösungen. Allerdings sind in der zurückliegenden Dekade nicht im gleichen Maße die Anstrengungen von Regierungen gestiegen, rasch eine breite Wissensbasis und öffentliche Unterstützung aufzubauen, indem sie alle relevanten Experten und gesellschaftlichen Akteure in den frühen Phasen der Politikentwicklung einbeziehen. An der Spitze des Rankings zu den Bemühungen von Regierungen, einen gesellschaftlichen Konsens zu stiften, stehen Norwegen, die Schweiz, Kanada, Dänemark und Schweden. Deutschland rangiert hier auf einem guten 8. Rang.

In nicht weniger als 14 Ländern allerdings spielt die Nutzung von externem Fachwissen bei politischen Entscheidungsprozessen keine oder nur eine geringe Rolle. 18 Länder weisen Nachholbedarf bei der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure in die Politikentwicklung auf.

Die Stärkung eines vorausschauenden Ansatzes im Regierungsalltag hängt schließlich davon ab, inwieweit es gelingt, die Wirksamkeit des politischen Gesamtansatzes anhand einer geeigneten Datenbasis und eines öffentlichen Verfahrens fortlaufend zu überprüfen und an neue Gegebenheiten anzupassen. Angeführt wird das Ranking zu einer wirksamen Strategieentwicklung erneut von Dänemark und Finnland. Deutschland belegt nur den 16. Platz. Dänemark bietet ein gutes Beispiel für eine informationsbasierte Politikgestaltung. Relevante Interessengruppen sind an der Durchführung von Folgenabschätzungen beteiligt, und Evaluierungen werden ausdrücklich in den Prozess der Politikformulierung integriert.

In vielen Staaten ist eine Kultur der informationsbasierten Politikgestaltung aber nur sehr unzureichend verwirklicht oder nur in Ansätzen erkennbar. "Anlass zur Sorge gibt insbesondere die Beobachtung, dass in 23 Staaten Politikvorschläge kaum auf ihre Vereinbarkeit mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen geprüft werden", kommentiert Thorsten Hellmann, Studienautor und Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung.

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